In
vieler Hinsicht war der amerikanische Mainstream-Film in den 60er-Jahren
eine Zeit des Übergangs. In dieser Zeit lockerten sich die
Kategorien des Genre-Films, selbstreflexive Tendenzen, und "das
Spiel mit den Genres" entwickelten sich. So war das Erscheinen
des ersten Italowestern von Sergio Leone
(per un pugno di dollari, 1964) kennzeichnend für die 60er-Jahre.
Sam Peckinpah drehte The
deadly Companions (1961) und Arthur
Penn, der bereits Fernseherfahrung hatte, machte 1958
einen ungewöhnlichen Western: The
Left Handed Gun (Einer muss daran glauben). Der Spätwestern
entzog sich durch seine kritische Reflexion des Mythos vom guten
Pionier, der mit entschlossener Faust seine moralische Überlegenheit
demonstriert, die eigene Grundlage.
Die Auflösung der klassischen Genregrenzen sind kennzeichnend
für das Kino der späten 60er- und frühen 70er-Jahre.
Was
ist ein "Genre"? -
Genre
(franz.) bedeutet so viel wie "Art", "Gattung"
oder "Wesen".
Seit der Wiederentdeckung von Aristoteles
im 16. und 17. Jahrhundert spielt der Begriff Genre in der Literaturwissenschaft
eine bedeutende Rolle.
Zu Beginn der Filmproduktion wurden Filme primär durch ihre
Länge und durch ihr Thema identifiziert. Die frühe Filmgenre-Terminologie
diente eher zur Verständigung zwischen Kinobesitzern und Filmverleihern.
"Die
erste Filmgenre-Terminologie entstammte Literatur und Theater (Komödie
und Romanze) oder beschrieb einfach das Thema (Kriegsbilder). Späteres
Filmgenre-Vokabular stammte häufig aus spezifisch filmischen
Produktionspraktiken (Trickfilm, Animationsfilm, Verfolgungsfilm,
Aktualität oder Film d'art).
Mit der Standardisierung der Kinoproduktion während und nach
dem Ersten Weltkrieg nahm die Spezialisierung der Genreterminologie
zu. Sie diente nun zur Diversifizierung innerhalb von Subgenres
der zwei Hauptströme des Kinos, Melodram und Komödie."
(Altman, Rick: Film und Genre. In: Geschichte des
internationalen Films, S. 253)
Während
der Stummfilmzeit wurden die allgemein gehaltenen Genrebezeichnungen
weiter spezifiziert. Aus dem Typus Komödie z. B. wurden die
Genres Slapstick, Farce und Burleske generiert, aus dem Melodram
Suspense und Horror. Genres fanden auch von Land zu Land unterschiedliche
Bezeichnungen, wie z. B.: "Kammerspiel" (Deutschland),
"Boulevard Film" (Frankreich), "Serial" (dt.:
"Mantel und Degen") (USA) oder "Gendaigeki"
(Film über das moderne Leben) in Japan.
Die
Terminologie der Genres erfüllt verschiedene Funktionen
im Kino: Bei der Produktion erleichterte die Klassifizierung
dem Produktionsteam die Kommunikation. Dem Verleih bot das Genre-Konzept
die Möglichkeit der knappen Kommunikation zwischen Produzenten,
Verleiher und Kinobesitzer und bei der Vermarktung des Films diente
das Genre-Konzept der Verständigung zwischen Kinobesitzer und
Publikum. Alle Filme gehören per Definition einem Genre an,
nur bestimmte Filme werden auf ein Genre hin produziert und dabei
aufgrund eines speziellen Genre-Typs konsumiert. Der Genrebegriff
- wenn er Verleih- oder Klassifizierungszwecken dient - bezeichnet
Filmgenres. Von Genrefilm
hingegen spricht man, "wenn der Begriff des Genres eine aktivere
Rolle in der Produktion und im Konsum spielt". (Altman,
Rick: Film und Genre. In: Geschichte des internationalen Films,
S. 254)
Das
Hollywood-Studiosystem der 30er-Jahre hat die Genrefilmproduktion
weltweit bestimmt, Genres anderer nationaler Industrien fanden wenig
Beachtung. Die Genrefilmproduktion verwendet immer wiederkehrende
Muster: Handlungsmotive, Erzählmuster und Einstellungsfolgen
werden wiederholt. Der Genrefilm wird als solcher erst nach einer
gewissen Zeit erkannt. So wurde der erste "Western" The
Great Train Robbery (1903, Der große Zugüberfall)
vorerst nicht als Western wahrgenommen. Erst mit der Zeit (innerhalb
eines Jahrzehnts) verdichteten sich die Produktionen zu einem Genre,
dem Western. Auch das Musical,
das mit dem Tonfilm in Erscheinung trat, wurde nicht sofort als
Musical identifiziert. Erst mit einer konventionalisierten Genreproduktion
gemäß den Regeln (wie z. B. Musical, Western) wurden
Genres vom Publikum identifiziert.
Mit
der Zeit wurden die herausgebildeten Schablonen zu Genre-Regeln,
die auf alle Bereiche der Filmproduktion und -rezeption großen
Einfluss ausüben. So beurteilen Drehbuchautoren z. B. ihre
Charaktere und Handlungsmuster nach Zugehörigkeit zu einem
bestimmten Genre. Bei der Auswahl der Schauspieler, bei der Kamera,
Musik, beim Schnitt, bei den Visagisten usw. wird auf vorangegangene
Genreproduktionen Bezug genommen. Dabei profitiert die Produktion
durch die Standardisierung und spart Zeit durch die Wiederverwendung
von Mustern in vorhergegangenen Genre-Produktionen.
Auch die Verleiher arbeiten mit Genre-Regeln: Sie fassen die einzelnen
Zuseher zu Genre-Gruppen zusammen. Genrenamen, Titel, Symbole, Soundtrack,
Handlungsmotive und Schauspieler spielen in der PR-Strategie der
Produzenten und Film-Verleiher eine wichtige Rolle.
Die Genre-Regeln vereinfachen für das Publikum den Entscheidungsprozess,
weshalb auch verschiedene Filmbewegungen wie z. B. die Nouvelle
Vague und das New American Cinema ihre Produktion auf bereits bestehende
Genre Regeln aufgebaut haben.
Das Wissen um Genres spielt beim Rezeptionsprozess und der Filminterpretation
eine große Rolle, allerdings sollte man hier Vorsicht walten
lassen, denn nicht alle Filme nützen das Genre-Wissen des Zuschauers.
Die
Genre-Regeln für ein Musical lauten: boy
meets girl, boy dances with girl, boy gets girl. Der
Film Top Hat (1935, Mark Sandrich) mit Ginger Rogers und Fred Astaire
(beide Genre-Ikonen des Musicals) belegt, dass diese drei konstituierten
Regeln - boy meets girl, boy dances with girl, boy gets girl - so
einfach nicht aufgehen und das Vergnügen für die Zuseher
auch darin besteht, dass diese Regeln gebrochen oder geändert
werden.
In
der Rezeption von Genrefilmen identifiziert Rick Altman folgende
Elemente: |
1. |
Genre-Publikum:
ausreichend vertraut mit dem Genre und seinen Regeln |
2. |
Genre-Regeln
und -Konventionen: Methoden des Verstehens und der
Interpretation, die mit Genre-Normen in Einklang stehen |
3. |
Genre-Vertrag:
Implizite Übereinkunft zwischen Genre-Produzent (der
das angekündigte Genre-Vergnügen liefert) und Genre-Konsument
(der bestimmte Genre-Motive und Vergnügen erwartet und
bewusst wählt); |
4. |
Genre-Spannung:
Die in einem Genrefilm eingebaute Spannung zwischen dem Umsetzen
der Genre-Regeln und dem Abweichen von diesen |
5. |
Genre-Enttäuschung:
Emotionen, die durch das Abweichen eines Films von Genre-Normen
erzeugt werden. |
(Altman,
Rick: Film und Genre. In: Geschichte des internationalen Films,
S. 256) |
Die
durch Genre-Regeln definierte Semantik und Syntax unterliegen aber
auch einem historischen Wandel. So können Produktionen, die
als Genrefilme nicht angenommen wurden oder enttäuschten, auf
einer Metaebene z. B. in Form einer Genreparodie durchaus ihr Publikum
finden.
Manche
Kritiker sehen Genrefilme als Transportmittel für eine bestimmte
Ideologie, die die Interessen einer Industrie oder Regierung gegenüber
dem Zuseher glaubhaft macht, indem sie mit diesen Filmen Wünsche
und Ideale verbreiten und als "Projektionsflächen"
für angeblich eigene Wünsche zur Verfügung stellen.
In diesem Licht gesehen rechtfertigt der "Western" die
Verbrechen an den Indianern und legitimiert die Ausbeutung des Kontinents.
Es entsteht der Eindruck, die Besiedelung des Westens (des nordamerikanischen
Kontinents) durch weiße Siedler sei eine Art "Naturgesetz".
Andere Kritiker hingegen betrachten den Western als "eine Abhandlung
über die antagonistischen amerikanischen Werte der individuellen
Freiheit und des gemeinschaftlichen Handelns, der Achtung vor der
Natur und der Notwendigkeit des industriellen Wachstums oder der
Verehrung der Vergangenheit und des Strebens nach einer neuen Zukunft.
So verstanden sind Genre-Filme von der Filmindustrie nur auf Veranlassung
eines spezifischen Publikums produziert worden, das Filme als Methode
des kulturellen Denkens' nutzt". (Altman,
Rick: Film und Genre. In: Geschichte des internationalen Films,
S. 256)
Die
Filmemacher der 60er-Jahre begannen, die Genres systematisch zu
zerstören, indem sie den Vereinfachungen der jeweiligen Genres
entgegenwirkten. Kennzeichnend dabei war die Aufweichung der klassischen
Genregrenzen (z. B. James-Bond-Serie).
Die klassischen Genres erfüllten das Kriterium, ein möglichst
breites Publikum anzusprechen, nicht mehr.
Durch die Fragmentierung der Medien und des Publikums sowie durch
die Möglichkeit, klar definierte Segmente des Publikums direkt
mittels neuer Kommunikationsmöglichkeiten anzusprechen, werden
neue Genre-Kategorien heute durch Zuschauergruppen gegründet
und die alten Genres neu rezipiert.
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