Ran an den Malkasten! – Gedanken zum Film ALPHABET
Über 100 000 BesucherInnen haben sich allein in Österreich Erwin Wagenhofers Film „Alphabet-Angst oder Liebe“ im Kino angeschaut. Damit gehört der Film zu den meistgesehenen heimischen Produktionen des vergangenen Jahres. Der Film erscheint jetzt auf DVD. Was kann uns der viel diskutierte Film auch aus medienpädagogischer Sicht sagen?
Die Kinder sind hoch konzentriert. Lassen sich von nichts aus der Ruhe bringen und prüfen mit kritischem Auge, was sie fabrizieren. Sorgsam wird nochmals nachjustiert. Es sind jedoch keine Matheaufgaben, die sie lösen, sondern großflächige Leinwände, auf denen sie mit viel Farbe ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Wir befinden uns inmitten einer Schlüsselszene von „Alphabet“. Im von Arno Stern gegründeten „Malort“ (franz. Closlieu) scheinen die Windmühlen der leistungsgetriebenen Zeit stillzustehen. Hier werden Kinder nicht nach bestimmten Vorstellungen erzogen, sondern bestimmen selbst, wie sie ihre Gedanken mit Farbe und Pinsel auf die Leinwand bringen. Hier herrscht nicht das übliche Hierarchieverhältnis zwischen Zögling und Erzieher. Hier sind die Kinder ihre eigenen Lehrmeister.
Gesellschafts- und globalisierungskritische Dokumentarfilme sind bekanntlich Erwin Wagenhofers Spezialität. Nach einer Beobachtung der Lebensmittelindustrie („We Feed the World“, 2005) und des Finanzsektors („Let’s Make Money“, 2008) widmet sich Erwin Wagenhofer nun dem Thema Bildung. Seine Botschaft ist deutlich: Die heutige Schule – bildgewaltig anhand von überforderten Schülerinnen und Schülern in China und Deutschland in Szene gesetzt – basiert auf erzieherischen Prinzipien aus der Frühzeit der Industrialisierung. Die Schule propagiere nach wie vor einen technokratisch geprägten Wissensvorrat und fördere Denkstrukturen, die unser Wirtschafts- und Finanzsystem unhinterfragt ließen. Unser Denken könne jedoch nur verändert werden, wenn sich die Art und Weise ändere, wie wir lernen.
Szenenwechsel. In frisch gebügelten Anzügen schreiben Männer und Frauen Stichpunkte auf Flipcharts. Auch ihre Gedanken sind hier gefragt. Aber nicht Gedanken, die ihnen spontan in den Sinn kommen dürften, sondern Gedanken zum Thema Beruf und Erfolg. Diese uniformierte Gruppe gehört dem Beratungsimperium McKinsey an und stellt somit die aufstrebende Wirtschaftselite dar. Ähnlich strebsam geht es beim Wettbewerb “CEO of the Future” zu. Hier wird der erfolgreichste Nachwuchsmanager bzw. die erfolgreichste Nachwuchsmanagerin ausgezeichnet. Erwartungsvolle Gesichter deuten darauf hin, dass der Wunsch, auserwählt zu werden, groß ist. “Ich finde es schön, wenn alle so richtig viel und hart arbeiten wollen”, sagt eine Teilnehmerin. “Leistungsorientiertheit, alles andere ist egal”, sagt ein anderer.
Wagenhofer arbeitet gerne mit Kontrasten, lässt die Bilder für sich sprechen und formuliert seine Botschaften anhand von markanten Schauplätzen. Seine ProtagonistInnen müssen sich häufig nicht mal zu Wort melden, damit der Zuschauer/die Zuschauerin versteht, welcher Welt er oder sie angehört. In „Alphabet“ geht es vor allem um zwei Welten: Die eine Welt bietet Menschen fernab von Leistungsdruck und Wettbewerbsdenken Orte, an denen sie sich ihrer Kreativität hingeben können. Als unverrückbare Festung in einer konkurrenzgetriebenen Welt stellt der „Malort“ einen dieser Rückzugspunkte dar. In der anderen Welt regiert der uneingeschränkte Glaube an Wachstum und Profit. Leistung wird hier zur obersten Handlungsmaxime deklariert.
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Angesichts der immer wiederkehrenden Debatten über gestresste SchülerInnen und besorgte „Helikopter-Eltern“, die ihre Schützlinge mit Musik-, Sport- und Frühförderunterricht überhäufen, ist dieser Film eine Wohltat.
Wagenhofer plädiert für Entschleunigung und zeigt auf, dass eine Besinnung im Bildungsbereich stattfinden muss. Mit Ken Robinson, Gerald Hüther und Arno Stern wählt der Filmemacher prominente Lern- und Bildungstheoretiker, welche vehemente Verfechter von mehr Spiel und Kreativität bei der Heranbildung von jungen Menschen sind. Das im Film von Ken Robinson angesprochene „Divergent Thinking“ (unangepasstes Denken) dient nur als ein Beispiel, wie ungewohnte Lösungen im Lernprozess ermöglicht werden können.
Diese Gedanken sind wertvoll angesichts einer Gesellschaft, in der die enorme Bedeutung von Kreativität und sozialer Intelligenz häufig zu wenig beachtet wird. Kürzungen von Sport, Musik- und Kunstunterricht sind nur ein Beispiel für die bildungspolitische Entscheidung, den Fokus auf die (messbaren) Kernfächer zu legen. Doch Wagenhofer verpasst auch einige Chancen in Bezug auf die Frage, wie Bildung heutzutage angelegt sein sollte und was Systeme wie die Schule leisten müssen.
Als Beispiel, wie unverfälscht und frei jemand aufwächst, der nie zur Schule gegangen ist, wählt Wagenhofer den Musiker und Bildungsreferenten André Stern. Er musste sich nie den auferlegten, institutionalisierten Zwängen der Schule unterwerfen und konnte sich ganz seiner Kreativität hingeben. Das habe ihm, wie er selbst im Film sagt, ein Aufwachsen „in völliger Freiheit“ ermöglicht.[1] Kein Zweifel besteht darin, dass ihn seine unerschöpfliche Wissbegierde, sein ungezwungener Leistungsantrieb und sein unerschütterlicher Glaube an sich selbst zu einem Menschen machen, von dessen Sorte es möglichst viele geben sollte.
Doch André Sterns Bildungsweg muss als Einzelfall betrachtet werden. Seine akademisch gebildeten und im pädagogischen Umfeld tätigen Eltern konnten ihm eine Erziehung ermöglichen, in der er intellektuell überdurchschnittlich gefördert wurde. Das freie Aufwachsen ohne Schulbesuch mag sich bei André Stern positiv ausgewirkt haben. Doch ist er als Protagonist gewagt, wenn man bedenkt, wie wenig Kinder so privilegiert aufwachsen wie er. Es hätte dem Film gut getan, wenn Erwin Wagenhofer einen Protagonisten bzw. eine Protagonistin gewählt hätte, deren Entwicklung ebenso wünschenswert wie jene von André Stern wäre, aber eine Schule tatsächlich besucht hätte.
Die Frage kann doch nicht lauten, was ein Individuum ohne Schule erreichen kann, sondern was eine Schule leisten muss und leisten kann, um selbstbewusste und erfolgreiche Individuen hervorzubringen.
Auch wenn das Hauptthema des Films nicht dezidiert die Schule ist, wäre es spannend gewesen, wenn Wagenhofer zumindest in der Frage der richtigen Schule mehr Utopie gewagt hätte und eine Schule aufgezeigt hätte, die gerade jene SchülerInnen heranbildet, welche die Gesellschaft im Informationszeitalter so dringend braucht. Wie viel Raum würde diese Schule der so stark geforderten Kreativität einräumen? Nach welchen Kriterien würde diese Schule ihre LehrerInnen auswählen? Wie würde sie mit der Vereinbarkeit von Bildungsstandards und pädagogischer Selbstverantwortung umgehen? Man merkt, wie schwer es Wagenhofer fällt, diese Fragen zu beantworten. Ein Gesprächspartner wie beispielsweise der Bildungsexperte und Publizist Reinhard Kahl [2] hätte dem Film eine Wendung verliehen, die ihm gut getan hätte.
Kreative, ausgeglichene oder gar glückliche SchülerInnen kommen im Film nicht vor. Darin liegt eine verpasste Chance, denn so hätte gezeigt werden können, inwiefern institutionalisierte Systeme trotzdem „Malorte“ bieten können. Hätte Wagenhofer zumindest einen Lehrer bzw. eine Lehrerin solch eines Ortes als ProtagonistIn gewählt, wäre vielleicht auch deutlich geworden, wie Lernprozesse fernab von Leistungsdruck und Konkurrenzdenken gestaltet sein können und Kreativität entstehen kann.
Inwiefern kann gerade medienpädagogische Arbeit ein „Malort“ sein?!
Weiterführende Links:
Website zum Film:
Unterrichtsmaterial:
http://www.alphabet-film.com/assets/content/images/media/alphabet-schulmaterial-de.pdf
Mehr Infos zu Reinhard Kahl:
[1] Von seinen Erfahrungen erzählt André Stern im Buch „… und nie war ich in der Schule: Geschichte eines glücklichen Kindes“ (HERDER spektrum).
[2] Reinhard Kahl hat u.a. den Film „Treibhäuser der Zukunft – Wie in Deutschland Schulen gelingen“ (2004) erstellt. Darin zeigt Kahl Beispiele von Schulen, die mit alternativen Ansätzen herausragende Bildungserfolge erreichen.
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